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China Miéville: Dieser Volkszähler

Träum ich? Wach ich? China Miéville spielt in „Dieser Volkszähler“ mit der Verwirrung.

So ein Loch ist ja eine feine Sache. Gerade wenn man auf einem Berg wohnt, lässt sich in einem scheinbar bodenlosen Felsspalt vieles leicht entsorgen: Abfälle, tote Hunde, Menschen … Vater macht das immer. Hat er jetzt Mutter ins Loch geworfen? Oder war es Mutter, die Vater umgebracht hat? Da ist sich der Junge nicht ganz sicher. Verwirrt rennt er von der abgelegenen Berghütte runter in das Brückendorf, um von dem Grauen zu berichten und Hilfe zu holen. Hier kennt man die Familie: Der Vater macht den Dorfbewohnern magische Schlüssel, die ihnen ihre Wünsche erfüllen sollen. Als man auf den Berg steigt, ist man ratlos: Der Vater ist da, die Mutter anscheinend fort, ein Abschiedsbrief wird gefunden – aber jeder sieht eine andere Wahrheit, und erst als ein mysteriöser Volkszähler auftaucht, kann der Junge dem Familiendrama entfliehen. Oder etwa nicht?

China Miévilles surreale Geschichte entführt uns in eine postapokalyptische Zukunft. Oder in die Vergangenheit? Vielleicht ist sie aber auch das Ergebnis einer autistischen Wahrnehmung der Gegenwart. Unklar, denn Miéville schreibt weird-fiction. Er bleibt unscharf, verweigert Erklärungen, springt zwischen Zeiten und Erzählperspektiven. Sein unzuverlässiger Erzähler skizziert dabei eine ebenso bedrohliche wie magisch verträumte (Alb-)Traumwelt mit Gothic- und Science-Fiction-Szenarien. Ein verwirrendes Bild. Unvollständig, gewiss, aber der Junge gleicht Wahrnehmungslücken und seine unzulänglichen Erinnerungen mit Fantasie aus. Und so lässt uns Miéville mit seiner atmosphärischen Novelle verzaubert zurück. Oder eben restlos verwirrt: Alles eine Frage der eigenen Wahrnehmung. nh

China Miéville Dieser Volkszähler

Liebeskind, 2017, 176 S., 18 Euro

Aus d. Engl. v. Peter Torberg

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