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Édouard Louis: Im Herzen der Gewalt

Mit dem autobiografischen Buch „Im Herzen der Gewalt“ verarbeitet der französische Autor Édouard Louis seine eigene Vergewaltigung – und legt damit den wichtigsten politischen Roman des Jahres vor.

Als der Ich-Erzähler Édouard nach einem Weihnachtsessen mit seinen besten Freunden den Heimweg durch das nächtliche Paris antritt, wird er auf dem Place de la République von einem fremden Mann angesprochen. Der junge Kabyle heißt Reda, er macht Édouard Komplimente, möchte mit ihm noch etwas trinken gehen, und nach anfänglichem Zögern nimmt Édouard ihn mit zu sich nach Hause. Die beiden schlafen mehrmals miteinander, unterhalten sich – doch dann bemerkt Édouard, dass sein Handy verschwunden ist. Als Reda sich kurz darauf verabschieden will, lugt Édouards iPad aus dessen Manteltasche, und es kommt zum Streit. Reda bedroht Édouard mit einem Revolver, er würgt ihn mit einem Schal und vergewaltigt ihn. Erst als es Édouard gelingt, die Tür zum Flur zu öffnen, und er damit droht, um Hilfe zu schreien, verschwindet Reda aus der Wohnung.

Doch „Im Herzen der Gewalt“ ist nicht einfach die Aufarbeitung einer extrem traumatischen Erfahrung, bei der der Ich-Erzähler chronologisch die Ereignisse der Schreckensnacht wiedergibt. Der Autor Édouard Louis war durch seinen vor drei Jahren veröffentlichten Debütroman zum Shootingstar der französischen Literaturszene avanciert: In „Das Ende von Eddy“ erzählt er von seiner Kindheit und Jugend in der tiefsten französischen Provinz, von einem Milieu, das von Rassismus und Homophobie geprägt ist, und in dem er als junger Schwuler tagtäglich diskriminiert und misshandelt wurde. Louis berichtet, wie er in die Großstadt flüchtet, seine vorbelastete Identität abstreift und in Paris Philosophie studiert. In „Das Ende von Eddy“ kontrasiert er seine neue, akademische Sprache mit den Formulierungen seines Herkunftsmilieus – doch tut er das nicht, um anzuklagen. Er gibt den Menschen aus diesem Milieu eine Stimme, um nachzuspüren, woher ihr Hass und die Gewaltbereitschaft kommen.

Kurz nach der Vergewaltigung kehrt Louis ausgerechnet in sein Heimatkaff Hallencourt zurück und macht seine Schwester Clara zur Miterzählerin. Heimlich belauscht er, wie sie ihrem Mann von den Geschehnissen in der Weihnachtsnacht erzählt, und in „Im Herzen der Gewalt“ sind es seine eigenen Ergänzungen und Korrekturen, die er dem Gespräch kursiviert und in Klammern beimengt. Louis geht es nicht nur um die körperliche Gewalt, die ihm in der Nacht der Vergewaltigung angetan wurde: Während es ihm im Krankenhaus, auf dem Polizeirevier und beim Psychologen noch gelingt, deren rassistische Denkmuster aufzuspüren und dagegen zu opponieren, stellt er doch nach und nach fest, dass ihm seine Identität und die eigene Geschichte entgleiten: „Ich war zum Rassisten geworden.“ Er, der sich in seinen linken Überzeugungen als unverrückbar angenommen hat, muss plötzlich feststellen: „Im Bus, in der Metro senke ich den Blick, wenn ein Schwarzer oder Araber oder möglicher Kabyle mir näher kam – ausschließlich Männer, das war eine weitere Absurdität, in der rassistischen Besessenheit, die in mir siedelte, hatte die Gefahr immer ein Männergesicht.“

Es verwundert nicht, dass Louis derzeit europaweit von den Feuilletons angefragt wird, um über das Erstarken der Front National in Frankreich und den allgemeinen Rechtsruck zu schreiben. Als Schüler des Soziologen Didier Eribon setzt er dessen Analysen literarisch um – wobei Literatur bei Louis nicht Fiktion meint, sondern intelligent konstruierte Geschichten, die er der Wirklichkeit entreißt. Nicht nur Eribon, auch der Philosoph Geoffrey de Lagasnerie tauchen als seine engsten Freunde in „Im Herzen der Gewalt“ auf, und während Louis nun schon seit Wochen mit seinem zweiten Buch durch die Welt tourt, enden die Lesungen in der Regel als politische Diskussion. Der 24-Jährige kritisiert einen Kulturbetrieb, der ausschließlich um die intellektuelle Mittelklasse kreist und einen Großteil der Bevölkerung außen vor lässt: Ihre Lebenswelt kommt in einem Großteil der Romane, Filme und Songs nicht vor – und wenn, dann höchstens als klischiertes Zerrbild. Für Louis ist es entscheidend, zurück nach Hallencourt zu gehen und nach einer gemeinsamen Sprache zu suchen. Weniger wichtig ist es, dass seine Bücher in den kulturellen Blasen der Metropolen gefeiert werden. Es sei denn, „Im Herzen der Gewalt“ bringt diese Blasen zum Platzen.

Carsten Schrader

Édouard Louis Im Herzen der Gewalt

Fischer, 2017, 224 S., 20 Euro

Aus d. Franz. v. Hinrich Schmidt-Henkel

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