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Ein Leben

Eine Kinoperle aus Frankreich: Stéphane Brizé verfilmte einen Roman von Guy de Maupassant als naturalistische Tragödie – mit einem leuchtenden Hoffnungsschimmer am Ende.

Man kann es kurz machen: So umfassend wurde das Leben eines Menschen, sein Hoffen und Bangen, seine Wünsche und Qualen, sein Leid und sein Glück selten in einem Film eingefangen. Dabei filmt der französische Regisseur Stéphane Brizé alles andere als umfassend. Für sein Drama nach dem gleichnamigen Roman von Guy de Maupassant genügen ihm ein Landgut, der Garten und die Küste der Normandie, um ein ganzes Leben zu zeigen, von der Mädchenblüte bis zur verblühten Schönheit, in weniger als zwei Stunden. Und wie schon in „Der Wert des Menschen“ (2015), Brizés preisgekrönter Studie über einen mittelalten Arbeitslosen in den Mühlen der menschenverachtenden modernen Arbeitswelt, reichen ihm einzelne lange, manchmal qualvoll lange Szenen, um uns alles über Jeanne (Judith Chemla) zu erzählen. Die Bilder hier scheinen auf magische Weise mehr zu erzählen als die Bilder in anderen Filmen. Vielleicht ist es ihre Beiläufigkeit, ihr Naturalismus, der sie so reichhaltig macht, vielleicht auch Brizés Fähigkeit, dort einfach zuzuschauen, wo andere schon werten. Auf jeden Fall hat der soziale Realismus im Kino einen neuen Meister.

Anfang des 19. Jahrhunderts heiratet die 17-jährige Jeanne den verarmten Viscount Julien de Lamare. Das anfängliche Glück wird für Jeanne bald zum Alptraum. Julien zwingt ihre Zofe und Milchschwester Rosalie in eine Affäre, macht ihr sogar ein Kind. Jeannes Eltern und der Pfarrer drängen Jeanne dazu, ihrem Mann eine zweite Chance zu geben. Die nutzt er auch: um mit Jeannes bester Freundin ein Verhältnis anzufangen. Jeanne wendet sich an den Pfarrer, will nicht diejenige sein, die dem betrogenen Gatten der Freundin das Leben vernichtet. Der Kleriker verdammt Jeannes Einfühlsamkeit als Versündigung an der Wahrheit – und sorgt mit seiner Petzerei für einen Doppelmord inklusive Suizid. Jeanne, nun Witwe, klammert sich an ihre Eltern, die Mutter stirbt. Jeannes geliebter Sohn verschwindet nach London und meldet sich über die Jahre nur, wenn er Geld braucht, um seine horrenden Schulden zu begleichen, was Jeanne fast ruiniert. Dann zieht Rosalie wieder zu ihr, gewillt, der einsamen Jeanne beizustehen.

Dies ist ein enges Leben, und Brize wählt daher auch ein ungewöhnliches, fast eckiges 4:3-Bildformat. Er erspart uns auch nichts von Maupassants Fatalismus und Pessimismus und der von ihm eingenommenen und mit Schopenhauer-Lektüre unterfütterten Sicht auf den Menschen als unfertigem Entwurf, der verdammt ist zum Leiden. Der Film erfasst anhand eines Mikrokosmos eine von absoluter männlicher Hegemonie geprägte Gesellschaft. Und kommt damit in der Gegenwart an: Jeannes Kampf gegen das, vehement formuliert, Schweinesystem der Männer besitzt in Zeiten von #MeToo eine aktuelle Brisanz. Frauen werden weiterhin unterdrückt und von der Triebhaftigkeit des Kerls zum Objekt und Opfer degradiert. Die Hoffnung liegt im weiblichen Zusammenhalt. Und so schenkt uns „Ein Leben“ das zarteste Stück Hoffnung, seit es Literaturadaptionen gibt: Wenn Jeanne, gramergraut und gebeugt, die kleine Tochter ihres Tunichtgutsohnes in die Arme hebt und Rosalie die letzten Worte des Films spricht: „Das Leben ist nie so gut oder schlecht, wie man glaubt“ – dann scheint ein wärmender Strahl Sonne auf ein grabkaltes Stück Erde. vs

Die Vorstellungen von „Ein Leben“ in Ihrer Stadt finden Sie auf daskinoprogramm.de.

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