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Manchester by the Sea

Ben Afflecks Bruder Casey brilliert in der humorvollen Tragödie „Manchester by the Sea“ – Oscar, ich hör die Trapsen!

Er steht in der Leichenhalle und weiß nicht, ob er die Hände in die Tasche stecken soll oder nicht. Er weiß nicht, wie man in einem solchen Moment etwas Simples tut wie Stehen. Fast steckt er schon die Finger in die Taschen seiner abgenutzten Jeans, dann zieht er sie unbeholfen wieder heraus, in der offensichtlichen Unsicherheit, ob er dann an diesem Ort des Todes zu lässig erscheint. Aber wie steht man denn am Besten da, wenn man den Leichnam des verstorbenen Bruders identifizieren muss? Lee (Casey Affleck) weiß es nicht, wer von uns weiß das schon? Und so krümmt er in einer Übersprungshandlung seine Finger, lässt seine Hände schließlich schlaff neben der Hüfte hängen und blickt wortlos dem kreidebleichen Toten ins Gesicht.

Es sind solche genau beobachteten und präzise gespielten Augenblicke abseits der eigentlichen Aktion, die Kenneth Lonergans Drama „Manchester by the Sea“ zu einer beeindruckenden, naturalistischen Studie über das Menschsein und die Trauer machen. Casey Affleck, der jüngere Bruder von Ben, spielt darin den wortkargen Lee. Der arbeitet der im winterlichen Boston als Hausmeister, haust in einem Kellerloch und betrinkt sich in Bars, wo er statt auf Anmachen einzugehen Schlägereien anfängt. Schnell versteht man in diesen mit nüchternem Blick eingefangenen Szenen: In diesem Mann ist es unerträglich dunkel, etwas Furchtbares muss ihm zugestoßen und traumatisiert haben. Und das Schicksal ist noch nicht fertig: Lees älterer Bruder Joe (Kyle Chandler) stirbt an einer Herzkrankheit. Lee fährt rauf in seine Heimatstadt Manchester by the Sea, einem kleinen, rauen Ort am atlantischen Ozean. Dort sieht er sich per Testament zum Erziehungsberechtigten von Joes 16-jährigem Sohn Patrick (Lucas Hedges) ernannt – ausgerechnet hier, in der Stadt, in der Lees persönliche Tragödie passiert ist, die der Film in einer seiner zahlreichen Rückblenden erzählt.

Das Besondere an diesem Film ist, wie genau und trittsicher er sich abseits der Hollywoodpfade bewegt. Keine großen Streits und Versöhnungen, kein Alles-wird-gut, denn das wird es nicht, nicht einmal große Wende- und Höhepunkte: Regisseur Lonergan will so genau das Leben widerspiegeln, er erlaubt seinen Figuren nicht einmal eine große Entwicklung – denn genau so ist es ja in der Realität: Die meisten Menschen ändern sich nie, und wenn, dann brauchen sie Jahre dafür, ganz sicher aber nicht nur zweieinhalb Kinostunden. Einen Film ohne ausgeprägte Dramaturgie aber aufs reine Mäandern zu reduzieren, das ist gefährlich. Ohne Spannungsbogen verliert eine Geschichte meist an Spannung. Teilweise scheint diese eiskalte Eloge auf den Verlust auch nicht zu wissen, wo sie hinwill. Aber dann ist da Afflecks eindringliches Spiel, das wie angehaltener Atem ist. Und dann sind da wieder diese kleinen Momente, die andere Filme nicht zeigen, weil sie zu sehr damit beschäftigt sind, einem Happy End entgegenzusteuern.

Einmal fahren Lee und Patrick zum Krankenhaus, weil Patrick seinen toten Vater sehen will. Beide diskutieren, ob man nun reingehen soll oder nicht. Als Patrick dann sagt „Okay, dann los“, denkt Lee, er will nach Hause, und fährt los. Patrick aber steigt aus und gerät fast unters Auto. Über dieses Missverstädnis streiten sich beide laut und hektisch, und man denkt: Ja, genau so ist es, über solche banalen Missverständnisse streitet man sich auch in Situationen größter Trauer. Vielleicht gerade dann, um die emotionale Überforderung auszugleichen.

„Toni Erdmann“ hat in letzte Zeit ähnlich virtuos und erzählerisch umhertaumelnd auf das geschaut, was sonst nicht im Mittelpunkt steht. Und auch Maren Ade gelang so ein ganz besonders wahrhaftiger Film. Ähnlich wie „Toni Erdmann“ gibt es in „Manchester by the Sea“ am Ende keinen echten Hinweis auf einen Silberstreif am Horizont. Das Leben geht weiter, es wird uns Prüfungen, Hindernisse und Leid bescheren, und alles, was wir tun können, ist, damit umzugehen, uns aufzurappeln und weiterzuleben. Seltsamerweise liegt darin ein Trost – dass manchmal durchzukommen schon eine würdevolle Lebensleistung ist.vs

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