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Tiger Girl

So wild ist deutsches Kino selten: Die junge Vanilla versucht krampfhaft dazuzugehören – bis sie „Tiger Girl“ trifft, die ihr beibringt, sie selbst zu sein.

Figuren

„Ich hatte einfach Lust auf eine komplexere und gleichzeitig überzeichnete Frauenfigur, eine Art Superheldin“, beschreibt Regisseur Jakob Lass im kulturnews-Interview die Rolle der titelgebenden Tiger (Ella Rumpf). „Dann kam Vanilla dazu, weil ich gemerkt habe, dass ich unterdrückte Aggressionen auch superspannend finde“, sagt er über Tigers von Maria Dragus gespielten Gegenpol, der sich zur Securityfrau ausbilden lässt. Beide, Tiger und Vanilla, ziehen in Lass’ Film uniformiert durch die Straßen, beklauen Passanten und machen Dinge kaputt – ein Kreuzzug gegen normierte Weiblichkeit und modernen Kontrollwahn? Oder doch einfach nur die bloße Lust an der Zerstörung?

Fragen

Spätestens seit G20-Ausschreitungen sind die Fragen, die in „Tiger Girl“ angelegt sind, auch hierzulande wieder dringlicher denn je: Gibt es den Zweck, der Gewalt als Mittel heiligt? Wenn es Gewalt gegen die Falschen gibt, gibt es dann auch Gewalt gegen die Richtigen? Und wer zieht die Grenzen bei staatlicher Gewaltanwendung, wer überwacht die, die uns überwachen? Ob „Tiger Girl“ diesen Themen gerecht wird oder vielmehr seinem eigenen Gewaltästhetizismus auf den Leim geht, darüber wurde schon viel debattiert. „Ich bin kein Befürworter von Gewalt im echten Leben“, stellt Lass jedenfalls selbst klar. „Und ich glaube auch nicht, dass der Film zu Gewalt aufruft. Er setzt sich sehr kontrovers und kritisch mit Gewalt auseinander.“

Fogma

Die von Jakob Lass initiierten Fogma-Regeln lehnen sich nicht nur ironisch an das Dogma-Manifest an, durch das Regisseure wie Lars von Trier und Thomas Vinterberg Mitte der 90er durch Verzicht zu einem „reinen“ Kino finden wollten, sondern verkehrt es in sein Gegenteil: Wo Dogma 95 Strenge propagierte, steht Fogma für das Loslassen. „Mit den Prämissen zu Fogma überwinden wir das ganze ‚Wie man Filme richtig macht‘. Wir setzen uns unsere eigenen Maßstäbe“, heißt es da zum Beispiel, oder auch: „Jeder Fogma-Film braucht seine eigenen Regeln.“ Leitlinien für stilische Entgrenzung also, die auch einige wilde Perlen wie Lass’ „Love Steaks“ hervorbrachten, bevor es still um sie wurde. „Tiger Girl“ brachte das Manifest nun wieder ins Gespräch, wenn auch mit strittigerem Ergebnis: Auch in unserer Redaktion herrscht Uneinigkeit darüber, ob „Tiger Girl“ nun eine Energiespritze fürs deutsche Kino ist – oder längst noch nicht konsequent genug.

Filmsprache

Die Filme von Jakob und seinem Bruder Tom Lass („Kaptn Oskar“) oder die von Mitstreitern wie Axel Ranisch („Ich fühl mich Disco“) werden oft unter dem Label German Mumblecore geführt. Mumblecore ist eigentlich ein Subgenre des US-Indiekinos, in dem vor allem sehr viel geredet wird: Schauspielerinnen und Schauspieler, in den meisten Fällen schon privat aufeinander eingespielt, plappern wild drauf los, was dann manchmal banal, manchmal klug und oft unterhaltsam ist. Bei den deutschen Vertretern steht das Narrative meist stärker im Fokus, der Improvisationsansatz ist aber der Gleiche. „Ich suche da ein ganz spezielles, anderes Schauspiel“, erläutert Lass. „Wenn eine Idee nicht zu improvisieren ist, dann ist an ihr etwas falsch, dann verhalten sich Leute vielleicht nicht so.“

Facetten

Die Autodidaktin Maria Dragus machte das erste Mal in Michael Hanekes Meisterwerk „Das weiße Band“ auf sich aufmerksam, für den sie prompt einen Deutschen Filmpreis erhielt. Seither spielt sich Dragus quer durch Kino und TV, für eine gute Rolle macht sie auch schon mal einen Ausflug nach Rumänien, wo sie mit Cristian Mungiu das intensive Drama „Graduation“ drehte. In „Tiger Girl“ zeigt sie ihre ganze Bandbreite: Glaubwürdig wandelt sie sich von der unsicherheitsgebeutelten, schüchternen Auszubildenden zur rücksichtslos zuboxenden Unruhestifterin – und das in nicht einmal 90 Minuten.

Texte: sb

„Tiger Girl“ ist als DVD und Blu-ray im Handel erhältlich.

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