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Agnes Obel: Citizen of Glass

Früher hatte sie Angst, zwischen den Zeilen zu viel von sich zu verraten. Jetzt inszeniert Agnes Obel mit „Citizen of Glass“ die große Selbstoffenbarung.

Agnes, Ausgangspunkt für dein neues Album war der deutsche Begriff „Gläserner Mensch“. Während das Klagen über die Selbstentblößung in den Social-Media-Kanälen zu den derzeit beliebtesten Allgemeinplätzen zählt, besetzt du den Begriff aber durchaus auch positiv.

Agnes Obel: Es wäre ja nun wirklich langweilig, wenn ich mit meiner Platte sagen würde, dass wir uns selbst unsere Komplexität rauben – obwohl ich Facebook und so aus genau diesem Grund privat meide. Mir ging es um Offenheit im künstlerischen Ausdruck. Bislang habe ich immer versucht, meine eigene Person so weit wie möglich außen vor zu lassen. Ich war eine Geschichtenerzählerin, und bei jeder Textzeile habe ich mich gefragt, ob ich nicht zu viel von mir preisgebe. Diesmal wollte ich das Gegenteil und habe nur persönliche Ausgangspunkte zugelassen.

Bist du denn jetzt bei unserem Gespräch nervöser als in früheren Interviews, weil du dich mehr gezeigt hast und es schnell zu privat werden kann?

Obel: Im Gegenteil. Bei meinen ersten beiden Platten war ich ab kurz vor der Veröffentlichung regelrecht paranoid. Indem ich es zum Konzept gemacht habe, behalte ich viel stärker die Kontrolle über den Grad meiner Selbstoffenbarung. Früher war es ja ein Kampf mit meinem Unterbewusstsein: Ich hatte Angst davor, was sich ungewollt zwischen die Zeilen mogelt.

Trotzdem sind deine Texte nicht unbedingt leichter zu entschlüsseln als zuvor.

Obel: Es geht ja auch nicht darum, tagebuchartig und unmissverständlich aus meinem Leben zu erzählen. Es geht um persönliche Betroffenheit, und die kann auch wie beim Opener „Stretch your Eyes“ durch die politische Situation der letzten Jahre ausgelöst werden. Ich war bestürzt darüber, wie sehr sich die Menschen in Dänemark und den anderen europäischen Ländern von den Medien manipulieren lassen. In anderen Songs arbeite ich mich durchaus auch an Sachen aus meiner Vergangenheit ab, allerdings ist dabei weniger entscheidend, dass das auch eins zu eins verstanden wird.

„The past isn’t dead“ singst du in „It’s happening again“, und wenn man sich gläsern macht, werden all die Dinge sichtbar, die man zum Teil auch unbewusst schon lange mit sich rumschleppt.

Obel: Das spielt auf ein Zitat von William Faulkner an: „Die Vergangenheit ist nicht tot. Sie ist nicht mal vergangen.“ Mit „It’s happening again“ thematisiere ich meine dunkle Seite, über die ich nie zuvor geschrieben habe. Seit ich Kind bin, werde ich in einigermaßen regelmäßigen Abständen von diesen düsteren Gedanken heimgesucht, und ich erkenne solche Tage meist schon, wenn ich morgens die Augen aufschlage. Das hat in meiner Familie eine Tradition, ist also quasi vererbt, und irgendwann war mir einfach klar, ich darf das nicht tabuisieren, sondern muss darüber schreiben, um damit klarzukommen.

Das Konzept „Gläserner Mensch“ hat aber nicht allein deine Texte verändert. Statt nur auf Stimme und Klavier zu setzen, wählst du vielseitigere Arrangements, und du hast das Album komplett im Alleingang aufgenommen, abgemischt und produziert.

Obel: Es ist so poetisch, die Selbstentblößung mit diesem Begriff zu umschreiben: Glas ist ein starkes Material und dennoch so zerbrechlich. Es ist durchsichtig, kann aber auch reflektieren. Ich wollte unbedingt einen Sound, der gläsern klingt, und ich wollte die größtmögliche Freiheit, um in alle Richtungen experimentieren zu können. Aus diesem Grund habe ich mir etwa einen alten Synthesizer aus den 20er-Jahren gekauft, und ich würde den Sound der Platte als leicht spröde beschreiben. Er ist schön und gleichzeitig leicht unangenehm – in etwa so, wie man sich fühlt, wenn man sich einem anderen Menschen offenbart.

Aber ist es andererseits nicht eine Art des Versteckens, wenn du in „Familiar“ deine Stimme manipulierst und als dein männlicher Duettpartner auftrittst?

Obel: Für mich ist es ein Duett mit einer Stimme in meinem Kopf, einem inneren Geist. Er singt mit mir von einer geheimen Liebesaffäre, von Geheimnissen, die außer ihm niemand erfahren darf. Seit ich das erste Mal „Running up that Hill“ gehört habe, fasziniert mich der Gedanke, jemanden direkt in den Kopf blicken zu können. Bei Kate Bush geht es ja um einen Mann und eine Frau, die für einen Tag die Identität tauschen, um sich besser verstehen zu können – wobei es dabei nicht um Geschlechterrollen geht, sondern ganz generell um die Fähigkeit, sich in einen anderen Menschen einzufühlen. Vermutlich war aber auch Karl Ove Knausgård ein Einfluss, über dessen Bücher alle gesprochen haben, als der Song entstanden ist.

Du könntest einen Literaturapparat zum Thema zusammenstellen, oder?

Obel: Am meisten inspiriert hat mich der Roman „Neid“ des russischen Autors Juri Olescha. Er ist dafür verantwortlich, dass ich mit „Golden Green“ einen Song über Neid geschrieben habe, und „Red Virgin Soil“ ist nach ihm benannt: Red Virgin Soil war der Name einer antistalinistischen Widerstandsgruppe, der Olescha neben Schriftstellern wie Isaac Babel angehörte. In dem Roman geht es darum, dass der Erzähler seinen Mitbewohner beneidet, der als komplett gläserner Mensch den idealen Sowjetbürger repräsentiert: Er hat weder verborgenen Motive noch geheime Gefühle. Das war in den 20er-Jahren – und heutzutage ist das ja wieder ein allüberall gefordertes Ideal.

Interview: Carsten Schrader

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I took a day or two
to exile from the light
To unfold that prisoner
they call a mind

And for a brief moment
we could stop the time
But with the stars and the moon
I woke up in the night

In the same place, it was sailing before my eyes
It’s happening, it’s happening, it’s happening again

(aus: „It’s happening again“)

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