Zum Inhalt springen

Treffen bei Henschels im Keller

Penibel archiviert und unheimlich komisch: der siebte Band von Gerhard Henschels autobiografischem Langstreckenprojekt.

Mit „Arbeiterroman“, dem siebten Band seines autobiografischen Langstreckenprojekts, ist Gerhard Henschel am Beginn seiner eigenen Laufbahn als Schriftsteller angelangt. Grund für einen Besuch beim Künstler.

Familie Henschel empfängt die Journalistenschar bei Kaffee und Kuchen im Wohnzimmer ihres großen Hauses in Klein Bünstorf. Doch der Kaffee muss warten: Zuerst gibt Gastgeber Gerhard Henschel das versprochene Interview. Der Hinweis, man habe sich bereits irgendwann in den 1990ern im Marburger Café Roter Stern bei seinem gemeinsamen Auftritt mit dem Künstler Eugen Egner kennengelernt, verursacht einen abrupten Stopp auf dem Weg in den Keller. Henschel dreht sich um und zeigt zur Kellertreppenwand, wo sich plötzlich ein bisher unbeachteter Schatz auftut: Alles voller Egner-Gemälde, alles Originale! Eines abgedrehter als das andere. Zu einem erzählt Henschel eine Geschichte: „Eugen Egner“, sagt er, „hat das Bild einem Zeitungsfoto nachempfunden, das 1997 bei einer Lesung in Stendal aufgenommen und mit der kryptischen Bemerkung versehen worden war, dass sich das Publikum durch ,fast ungelöstes Lachen’ hörbar gemacht habe.“ Und dass er, Henschel, auf dem Gemälde eine Pickelhaube trage, liege daran, dass „irgendein Journalist mich einige Zeit zuvor des ,Wilhelminismus’ bezichtigt hatte.“ Nun kann man über Gerhard Henschel vieles sagen: So hat er den Feinschliff für Satire bei seiner Arbeit für die Magazine Kowalski und Titanic erhalten, Michael Rutschky war einer der ersten, die ihn aufforderten, Essays zu schreiben, und beim Schreiben der Familienromane orientiert Henschel sich an Walter Kempowskis Romanzyklus „Die Deutsche Chronik“. So vielfältig die Einflüsse, so unterschiedlich der Stil im Euvre des Schriftstellers – aber ein wilhelminischer Stil? Die Unterstellung ist so abwegig, wie Egners Gemälde skurril sind.

Im Keller angekommen: Regale, wohin man blickt, in jedem Winkel, in jedem Raum, den man sehen kann. Seit zwei Jahren leben die Henschels in diesem Haus, hier hat Gerhard Henschel erstmals den Platz für sein Archiv, das der Grundstein ist für den Romanzyklus über das Leben seines Alter Egos Martin Schlosser. „Hier sind die Belegexemplare aller Magazine, für die ich mal geschrieben habe.“ Er zieht ein Heft aus einem Schuber: „Hier bin ich Coverboy für ein Berliner Studentenmagazin.“ Ein anderes Regal: „An dieser Wand hier befindet sich das Familienbriefarchiv, hier ist der Briefwechsel der Großeltern, Onkel, Tanten, Geschwister. Immer wenn jemand stirbt, erbe ich in der Regel Tagebücher, Briefe, Fotoalben.“ Alles sorgsam durchnummeriert, alles bestens archiviert. Große Geste: „Hier beginnen meine eigenen Werke. Meine Eltern haben wundersamer Weise alles aufgehoben, auch Kinderzeichnungen aus der Zeit, und die ersten Briefe, die ich geschrieben habe, sind hier im Ordner.“ Achselzuckend sagt er: „Ich hebe Dinge halt auf. Ich drucke auch meine Mails aus und archiviere sie fortlaufend.“ Und man mag es nicht glauben, aber: Die Liebestagesbücher seiner älteren Schwester hat er auch.

Dann sind wir im Arbeitszimmer angekommen. Auch hier Bücherregale an allen Wänden, direkt an der Tür der Schreibtisch, ganz hinten vor der Regalwand ein großer Tisch mit vielen Sitzgelegenheiten. Im Regal steht eine wieder und wieder gelesene Werkausgabe von Karl Kraus’ Zeitschrift Die Fackel, versehen mit unendlich vielen Merkzetteln, aus der Martin Schlosser schon seit geraumer Zeit auch in den Romanen zitiert und die man durchaus als Henschels moralischen Kompass bezeichnen kann.

Während ich einen Roman schreibe“, sagt Henschel, „bereite ich den nächsten schon vor und den übernächsten und lege ein Datengerüst an, in das ich dann systematisch meine Dinge eintrage. Dann gehe ich meine alte Post durch und das, was ich früher geschrieben habe, alte Fotoalben, politische Ereignisse. Filmstarts, Buchneuerscheinungen. Zeitungsausschnitte, die ich aufgehoben habe.“ Kein Wunder, dass man Henschels Romane als kulturhistorische Werke lesen kann. Manche Leser tun das, andere sehen in ihnen ein romantisches Projekt im Geiste Novalis’. Wieder andere, die Henschel bereits aus seinen Jahren bei der Satirezeitschrift Titanic kennen, sehen in jeder Zeile den typischen Henschel-Humor. Henschel schreibt unheimlich komisch und zugleich ernsthaft, vor allem aber mit popkulturell unterfütterter Unbekümmertheit. Für jeden Liebeskummer, jede Trauer, jede sexuelle Erfüllung gibt es ganz unprätentiös mindestens einen Zweizeiler von Bob Dylan, Leonard Cohen oder einem der anderen musikalischen Hausgötter des Schriftstellers. „Ich mache Martin Schlosser nicht klüger, als ich selber damals war“, antwortet Henschel auf die Frage nach der Unbekümmertheit seines Protagonisten. „Ich versuche, so gut es geht, zu regredieren auf den Stand von damals, und das macht selbst bei den scheußlichsten Dingen oft wirklich viel Vergnügen.“

Dass es mit der Unbedarftheit bald vorbei sein könnte, sieht Henschel nicht. „Pleiten, Pech und Pannen wird es auch weiterhin für Martin Schlosser geben, das kann ich versprechen.“ Auch dann, wenn die nächste Freundin im 2018 folgenden „Dorfroman“ Kathrin Passig heißen wird und sie bereits die Erlaubnis erteilt hat, aus allen Briefen zu zitieren. „Es waren ungefähr 1000 Seiten Langeweile in Meppen, jetzt ist es das Leben in der jeverländischen Provinz, am Ende 1991 zieht Martin nach Berlin und lernt Wiglaf Droste kennen und Max Goldt, er lernt Eugen Egner kennen, das ist natürlich eine ganz neue Welt. Es macht mir jetzt immer mehr Spaß, Bücher zu schreiben.“ Die Kollegen seien schon gespannt, fügt Henschel hinzu. Die Leser aber auch.

Jürgen Wittner

Beitrag teilen: