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Hanya Yanagihara: Das Volk der Bäume

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Offenbart das nachträglich auf Deutsch erscheinende Debüt von Hanya Yanagihara, was die Autorin des Welterfolgs „Ein wenig Leben“ so außergewöhnlich macht?

Der vor zwei Jahren erschienene Roman „Ein wenig Leben“ war ein Ereignis: Immer wieder traf man auf Leser, die dieses knapp 1000 Seite starke Buch kaum ertragen, es aber auch nicht aus der Hand legen konnten, und im Netz wurden Foren gegründet, in denen es einzig und allein um Strategien ging, mit diesem Roman klarzukommen. Was ganz harmlos wie eine Freundschaftsgeschichte von vier jungen Männern in New York einsetzt, entpuppt sich nach und nach als eine abgründige Auseinandersetzung mit sexuellem Missbrauch, mit der die in Hawaii aufgewachsene US-Autorin unbequeme Fragen stellt: Wie lange wirken die in der Kindheit erfahrenen körperlichen und psychischen Qualen in uns nach, und wann wird ein Punkt überschritten, der einen Neuanfang unmöglich macht? Natürlich arbeitet Hanya Yanagihara ganz geschickt mit dem Zurückhalten von Informationen, der ständige Wechsel der Erzählperspektive intensiviert die emotionale Bindung zu ihren Protagonisten – doch selbst wenn man all diese Kniffe durchschaut, hält das die Tränen nicht zurück.

Bei ihrem jetzt endlich auch in deutscher Übersetzung vorliegenden Debüt erzählt Yanagihara nicht aus der Opferperspektive, sondern aus der des Täters. Inspiriert wurde ihr ursprünglich im Jahr 2013 veröffentlichter Roman „Das Volk der Bäume“ von der Lebensgeschichte des Wissenschaftlers und Mediziners Daniel Carleton Gajdusek, der in den 1970er-Jahren für die Entdeckung der Krankheit Kuru bei einem vermeintlich kannibalistischen Volk in Papua-Neuguinea den Nobelpreis erhalten hat. Gajdusek adoptierte mehr als 50 Kinder aus Papua-Neuguinea und wurde in den 1990er-Jahren zu einer Gefängnisstrafe von weniger als zwei Jahren verurteilt, nachdem er sich schuldig bekannt hatte, mehrere seiner Söhne sexuell missbraucht zu haben. Yanagihara übernimmt nur diesen Rahmen und fiktionalisiert Gajduseks Geschichte: Ihr Wissenschaftler heißt Dr. Abraham Norton Perina, der auf einer mikronesischen Insel den Volksstamm der Opa’ivu’eke entdeckt, deren Mitglieder durch den Verzehr einer seltenen Schildkrötenart den Alterungsprozess ihres Körpers aussetzen und mehrere Hundert Jahre alt werden können, während der geistige Verfall zugleich verstärkt voranschreitet.

Auch „Das Volk der Bäume“ ist extrem clever gebaut: Yanagihara lässt Perina im Gefängnis seine Lebensgeschichte niederschreiben, die jedoch von einem wissenschaftlichen Mitarbeiter und engen Freund kommentiert und bearbeitet wird. Indem das Ungeheuerliche erst widerwillig am Ende offenbart wird, kann sich der Leser trotz des arroganten Tons des Wissenschaftlers und seiner Allmachtsfantasien nicht gegen die Einfühlung wehren. Bevor es zum Showdown kommt, avanciert Yanagihara zur Autorin eines grandiosen Abenteuerromans, die nicht nur eine Insel und einen Volksstamm erfindet und so den Dschungel lebendig werden lässt, sondern auch noch von einem ganz anderen Machtmissbrauch zu berichten weiß, wenn Erkenntnisdrang, Ruhmsucht und Profitgier eine ganze Lebenswelt gnadenlos ausradieren.

 

Hanya Yanagihra Das Volk der Bäume

Hanser Berlin, 2019, 480 S., 25 Euro

Aus d. Engl. v. Stephan Kleiner

 

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