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Jeremy Reed: Beach Café

Fast hätten wir einen der aufregendsten britischen Dichter verpasst – dabei weiß Jeremy Reed in „Beach Café“ von Sehnsüchten zu erzählen, für die sich sogar lebenslanges Unglücklichsein lohnt.

Der Buchrücken zitiert Björk, macht neugierig und zugleich verlegen, wenn man bislang noch nichts von Jeremy Reed gehört hat: „Die schönste, gewagteste, strahlendste Poesie der Welt.“ Ein Blick ins Netz vergrößert die Scham, da auch Peter Doherty und der Schriftsteller Edmund White zu Reeds glühenden Verehrern zählen, und bringt zugleich auch Entlastung: Der 66-jährige Brite hat zwar bereits mehr als 40 Romane, Gedichtbände und Essaysammlungen veröffentlicht und wurde auch schon mit dem Somerset Maugham Award ausgezeichnet – doch bislang liegen noch keine Übersetzungen vor. Der kleine, sehr geschmackssichere Bilgerverlag mit Sitz in Zürich macht es sich nun zur Aufgabe, den avantgardistischen und kontroversen Dichter im deutschsprachigen Raum zu etablieren und plant für die kommenden Jahre eine Auswahl der wichtigsten Bücher von Jeremy Reed.

Den Anfang macht „Beach Café“, ein Roman, der im Original bereits 1991 erschienen ist. In ihm erzählt Reed von vier Jungs, die an der Schwelle zum Erwachsenwerden stehen und dem letzten Sommer ihrer Schulzeit in einer Bucht am Atlantik verbringen. Sie inszenieren sich als dandyhafte Schöngeister einer vergangenen Epoche, erspinnen Biografien, die radikal mit den Erwartungen ihrer Umgebung brechen und finden eine geeignete Projektionsfläche in den Männern, die auf der Suche nach anonymen Sex zwischen Felsen und Maulbeerbäumen umherstreunern. Da ist Dione, ihr Anführer, der seinen Körper für Drogen und extravagante Frauenklamotten verkauft. Der Bauernsohn Paul hadert mit seinem vorherbestimmten Schicksal, den elterlichen Hof zu übernehmen und zu heiraten. Auch Nicholas, der Sohn eines Immobilienmaklers, fühlt sich zu Männern hingezogen, und der namenlose Ich-Erzähler beobachtet das ausschweifende Treiben als Inspiration für seine verstörenden Gedichte. Sie alle klammern sich an die letzten Tage ihrer Jugend – doch noch in diesem letzten, unbeschwerten Sommer wird das Meer sich einen von ihnen holen.

Ursprünglich hat sich Jeremy Reed mit seinem Roman dem Aufkommen von Aids entgegengestellt – ohne die Krankheit auch nur ein einziges Mal zu erwähnen. „Beach Café“ ist ein mit impressionistischen Naturbeschreibungen errichteter Schutzraum, in dem freie Liebe mit all den dazugehörigen Gefühlsdramen noch gelebt werden kann. Gerade der vermeintliche Schwulst macht das Buch aber zu einer herausragenden Coming-of-Age-Miniatur: Mit Blick auf Schwulenfeindlichkeit in Osteuropa und der allüberall erstarkten Xenophobie liest sich der Text mit seinen Verweisen auf Bowie, Rimbaud oder Lou Read nicht nur als leider hochaktuelles Plädoyer für Andersartigkeit. Er zeigt auch, wie wir all diese wunderbaren, absurden Sehnsüchte an Sex knüpfen, die ein ganzes Leben mit Melancholie überziehen können.

Carsten Schrader

Jeremy Reed Beach Café

bilgerverlag, 2016, 142 S., 19 Euro

Aus d. Engl. v. Pociao

 

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