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Julia von Lucadou: Die Hochhausspringerin

Julia von Lucadou hat auf ein persönliches Unwohlsein reagiert – um jetzt mit „Die Hochhausspringerin“ das literarisch wie diskursiv spannendste Debüt des Herbstes vorzulegen.

Julia, hat dir die Arbeit an deinem Debütroman keine Angst gemacht?

Julia von Lucadou: Ich glaube, der Roman ist meine Art, mit einem gewissen Unbehagen umzugehen. Wenn man sich vergegenwärtigt, welchen Einfluss die großen digitalen Plattformen inzwischen über unser Leben haben, kann einem das schon unheimlich werden: Wie sie unsere ganz persönlichen Beziehungen und Eigenheiten kennen, unsere Ängste und Wünsche, wie sie gesellschaftlich wirken. Inwieweit dienen uns diese Tools und inwieweit lassen wir uns von ihnen fremdbestimmen? Man denke nur daran, wie im kürzlich geleakten Google-internen Video „The selfish Ledger“ die Zukunft ausgemalt wird. Aus diesem Zweifel und einem Gefühl des Ausgeliefertseins heraus ist mein Roman entstanden. Ich wollte verstehen, was mit mir oder mit uns als Gesellschaft passiert.

Indem du dich mit der Gegenwart beschäftigt hast, haben sich automatisch Zukunftselemente in den Roman eingeschrieben?

von Lucadou: Ich finde Literatur gerade deshalb so spannend, weil man seine Beobachtungen pointieren kann. Ich schreibe, um mir selbst klarer zu werden. Wenn ich bestimmte Prozesse ein bisschen zuspitze, kann ich sie eindeutiger sehen, als wenn ich sie ganz naturalistisch darstelle. So ist eine Art dystopisch geschärfte Version unserer Gegenwart entstanden. Nichts oder fast nichts von dem, was ich beschreibe, ist ja technisch noch nicht möglich und vieles ist sogar schon üblich.

Eigentlich hast du Filmwissenschaften studiert und als Regieassistentin und Redakteurin fürs Fernsehen gearbeitet. Hat es viel Mut gekostet, das alles für die Literatur hinzuschmeißen?

von Lucadou: Ich würde schon sagen, dass das ein Punkt ist, bei dem ich mich mit meiner Protagonistin Riva identifizieren kann: Wie sie habe ich irgendwann einen Bruch erlebt, ein Unwohlsein mit meinem Beruf und meiner dort betriebenen freiwilligen Selbstausbeutung. Ich bin noch mal in mich gegangen und habe mich gefragt, was ich eigentlich vom Leben erwarte – um dann bei der Literatur zu landen.

Manchmal habe ich mir bei „Die Hochhausspringerin“ gewünscht, du hättest wie Douglas Coupland in „Generation X“ ein Glossar angelegt, mit dem du all die neuen Begriffe und Schlagworte deines Romans erklärst.

von Lucadou: Ich hatte den Eindruck, dass man das nicht muss, weil wir alle schon auf eine Art mit solchen Begriffen vertraut sind. Ein Begriff wie etwa „Mindfulness“ existiert bereits und ist im Sillicon Valley schon lange ein Buzzword.

Beim „Parentbot“ war ich mir beispielsweise sicher, dass du ihn erfunden hast …

von Lucadou: Ja, der Parentbot ist tatsächlich eine Erfindung von mir. Aber neulich bin ich etwa auf einen Artikel im New Yorker gestoßen, in dem es darum ging, dass man sich in Japan Familienmitglieder mieten kann. Mein Mutterbot funktioniert ganz ähnlich – nur dass ich das eben ins Digitale übersetzt habe. Hier kann man sich im Gespräch mit einer digitalen Muttersimulation jederzeit fürsorglich bemuttern lassen. Es gibt viele reale technologische und gesellschaftliche Phänomene, die denen im Buch ähneln. Zum Beispiel eine App namens „Replika“, die auf eine russische Softwareentwicklerin zurückgeht. Sie hat einen Chatbot entwickelt, als ihr bester Freund überraschend starb. Um ihn in gewisser Weise trotzdem am Leben zu erhalten, hat sie alle Kommunikationsdaten von seinem Smartphone in diesen Bot gefüttert. Wenn man mit ihm spricht, hört er sich angeblich genauso an wie ihr verstorbener Freund. Diese Technologie verkauft die Entwicklerin jetzt als App. Mit „Replika“ kann man einen digitalen Bot von sich selbst herstellen und mit sich selbst intime Gespräche führen. Das ist nah an der Welt, die ich beschreibe.

Interview: Carsten Schrader

Die athletische Hochhausspringerin Riva ist ein perfekt funktionierender Mensch und Millionen Menschen jubeln ihr zu – bis sie eines Tages ihre Wohnung nicht mehr verlässt und das Training verweigert. Um sie wieder gefügig zu machen, erhält die junge Hitomi den Auftrag, Riva rund um die Uhr per Überwachungskamera zu beobachten und ein psychologisches Gutachten zu erstellen. Und Hitomi muss unbedingt erfolgreich sein – andernfalls wird sie der Stadt verwiesen und muss in die Peripherie umsiedeln, wo die Menschen bei ihren Biofamilien leben und mit Schmutz, Armut und ihren ganz und gar nicht perfekten Körpermaßen zu kämpfen haben.

Julia von Lucadou Die Hochhausspringerin

Hanser Berlin, 2018, 288 S., 19 Euro

LESUNGEN

11. 8. St. Gallen, 27. 8. Düsseldorf, 13. 9. Hamburg, 15. 9. Basel, 1. 10, Bielefeld, 18. 10. Göttingen, 19. 10. Goslar, 23. 10. Berlin, 26. 10. Köln, 31. 10. Hamburg, 1. 11. Ulm, 10. 11. Basel, 20. 11. Heidelberg, 26. 11. Hannover, 27. 11. Berlin

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