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Lea Porcelain: Hymns to the Night

Das Frankfurter Duo Lea Porcelain sorgt mit „Hymns to the Night“ auch international für Aufsehen. Aber liegt das wirklich nur an den Versen, die sie in einem mysteriösen Gedichtband entdeckt haben?

Natürlich hat man Lea Porcelain hierzulande längst auf dem Schirm. Schon vor anderthalb Jahren standen die beiden auf so ziemlich jeder Hotlist für 2016, denn ihre Singles „Bones“ und „Warsaw Street“ deuteten einen bis dahin ungehörten Sound an: Postpunk-Elemente und Joy-Division-Referenzen verbinden sich mit zeitgenössischen Elektrosounds zu düster-eingängigen Songs mit viel Kante. Doch Bummelei lassen sie sich nicht unterstellen, auch wenn das Debütalbum nun eben erst im Sommer 2017 erscheint: „Wir haben uns zwar 2012 im Offenbacher Club Robert Johnson (1) ein erstes Mal im betrunkenen Zustand unterhalten und sind danach in Kontakt geblieben, aber mit Lea Porcelain haben wir erst zwei Jahre später so richtig losgelegt“, korrigiert Knöpfchendreher Julien Bracht die häufig falsch kolportierte Bandgeschichte. Was die Schnittmenge aber nicht weniger interessant macht, die sich bei der Zusammenarbeit der zwei Musiker mit ganz unterschiedlichem Background ergibt: Produzent Bracht war mit Sven Väths Cocoon-Label verbandelt und stand auch schon mit Ricardo Villalobos auf der Bühne, während Sänger und Gitarrist Markus Nikolaus verschiedene Bandprojekte durchlaufen hat und mit der psychedelischen Dub-Combo The Waves & Us seine bis dahin größten Erfolge feiern konnte. „Trotzdem sind wir keine Retroband“, wehrt sich Bracht gegen die bisherige Verortung von Lea Porcelain, und wenn man das Debüt jetzt hört, wird schnell klar, dass Joy Division und Postpunk bestenfalls die Ausgangspunkte sind, von denen aus sie losgerannt sind: Während das Album von den bereits bekannten Singles eröffnet wird, taucht in „A Year from here“ plötzlich eine Ukulele auf, die sich auf wundersame Weise mit atmosphärischen Synthiesounds verbindet, und nach dem eindringlichen Piano-Zwischenspiel „White Noise“ stellen sie mit „Remember“ erst ihre Popsensibilität unter Beweis, um dann mit „Loose Life“ ein Stück vorzulegen, das jeden Berliner Elektroklub interessieren dürfte. So ist der Sound von „Hymns to the Night“ nicht nur ungehört, jeder Track überrascht auch noch mit einer spezifischen Stilistik – und Lea Porcelain sind selbstbewusst genug, dass sie mit dieser Leistung nicht nur auf die Newcomerlisten ihres Heimatlandes wollen.

Als wir mit Lea Porcelain in die Vollen gegangen sind, habe ich Markus eine Bedingung gestellt: Ich will keine Band sein, die Gelsenkirchen, Hannover und Reutlingen im Tourplan stehen hat“, bringt Bracht das von vornherein hoch gesteckte Ziel auf den Punkt. Doch wie soll das gelingen, wenn 99,9 Prozent der deutschen Acts im Ausland nicht ernst genommen werden, und in den letzten Jahren bestenfalls Roosevelt eine globalere Anerkennung bekommen hat? „Wir haben Angebote abgelehnt, sind stur geblieben und niemals von dem Vorhaben abgerückt, dass wir weder einen deutschen Manager, noch ein deutsches Label oder eine deutsche Agentur wollen“, sagt Brecht. Doch das bedeutete eben auch, dass sie nicht direkt von Frankfurt nach Berlin ziehen konnten, um in ihrem Studio im Berliner Funkhaus (2) an der Musik zu schrauben: Zunächst war ein Zwischenstopp in London fällig. „Natürlich ist es eine Überwindung, den Freundeskreis zurückzulassen, um zu zweit in irgendeiner Kaschemme in London zu wohnen“, erinnert sich Nikolaus an die Ungewissheit in der britischen Hauptstadt. „Jeder Tag ist da wie ein Test: Willst du das wirklich? Du rennst immer wieder in irgendwelche Meetings, um deine Musik vorzuspielen, und am Abend kämpfst du dich durch irgendeinen Scheißgig in Dalston.“ Am Ende hat es geklappt: Lea Porcelain unterschreiben beim Manager von Alt-J (3), und von diesem Moment an ergeben sich die nächsten Schritte von selbst – auch wenn die vielleicht ein bisschen länger dauern als von der deutschen Poppresse erwartet. „Das war wie ein Lottogewinn, denn der hat ja sechs Scouts rumlaufen, die sich jeden Musiker in London anschauen – und dann sind wir die Band, in die er die nächsten Jahre investieren will“, schwärmt Bracht.

Wenn Bracht und Nikolaus nun in Berlin die Tage bis zur Veröffentlichung runterzählen und nebenher mit ihrer Band an der Liveumsetzung von „Hymns to the Night“ feilen, sind sie zu Recht stolz und siegesgewiss – auch wenn die Warterei manchmal eben doch den einen oder anderen Spleen begünstigt. „Wenn ich mich manchmal frage, wie wir all das geschafft haben, fällt mir wieder ein, wie der Text von ,Bones’ entstanden ist“, erzählt Nikolaus. „In einem Oxfam-Shop in Frankfurt habe ich mir Bücher angesehen und bin dabei auf ein wunderschönes Gedicht gestoßen – aber statt mir die Anthologie zu kaufen, habe ich einfach die Seite rausgerissen.“ Als er später dann das Gedicht für den ersten Vers von „Bones“ (4) verwendet und eigene Zeilen hinzugefügt hat, war das Buch verkauft, und auch im Internet konnte er nicht rausfinden, von wem die Zeilen stammen. „Manchmal denke ich, dass die rausgerissene Seite schlechtes Karma bringt und uns das Glück bald verlässt, dann frage ich mich wieder, ob es nicht ein magisches Buch gewesen ist, durch das alles erst ins Rollen gekommen ist“, sagt er, schüttelt darüber aber selbst lachend den Kopf. Auch für ihn wird es höchste Zeit, dass dieses herausragende Debütalbum nun endlich mal erscheint.

 


LIVE

4. 7. Lyon

13. 7. Luxembourg

FESTIVALS

16. 7. Latitude Festival

25.–27. 8. Reading Festival

 

(1) Das Robert Johnson ist ein Technoclub im Offenbacher Stadtteil Kaiserlei, der 1999 eröffnet wurde. Zum zehnjährigen Jubiläum des Clubs wurde das Label Live At Robert Johnson gegründet, auf dem u. a. DJ-Mixe von Prins Thomas, Roman Flügel und Dixon erschienen sind.

(2) Das Funkhaus Nalepastraße ist ein zum Teil denkmalgeschützter Gebäudekomplex im Berliner Bezirk Treptow-Köpenick. Von 1956 bis 1990 hatt der Rundfunk der DDR hier seinen Sitz. Die Tonstudios und der Kultursaal werden heute von vielen Künstlern für Aufnahmen und Konzerte genutzt.

(3) Stephen Taverner hat Bands wie Alt-J und Wolf Alice als Chef von East City Management zum Durchbruch verholfen, ohne dabei deren Indie-Ideale zu verraten. Lea Porcelain sind der erste deutsche Act, den er unter Vertrag genommen hat.

(4) What do I care about your bones

I would remember you at once

Or mine or anybody’s bones

I hold your eager down the sands

There’s destruction in that romance

(aus: Bones)

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