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Ottessa Moshfegh: Mein Jahr der Ruhe und Entspannung

Cover Moshfegh

Sie ist die humorvollste Alltagsanalytikerin – und zugleich die größte Schlafmütze der Gegenwartsliteratur.

Winterschlaf! Wenn die dunklen Tage dräuen, träumen wir, es Haselmaus und Braunbrustigel gleichzutun und eine Auszeit zu nehmen: dem Alltag entfliehen, das Leben auf Null fahren, Energie tanken – das wär’s. In Ottessa Moshfeghs neuem Roman setzt eine junge New Yorkerin Mitte des Jahres 2000 genau diese Idee um. Nachdem sie ihren Job in der Hipstergalerie verloren hat, will die finanziell abgesicherte 26-Jährige ein ganzes Jahr im Tiefschlaf verbringen. Ausgestattet mit starken Schlafmitteln zieht sie sich in ihre Eigentumswohnung zurück. Die wenigen wachen Stunden verbringt sie mit Onlineshopping und Whoopi-Goldberg-Filmen, und ihr Appartement verlässt sie nur, um den Vorrat an Psychopharmaka aufzustocken oder sich in der nahen Bodega zu versorgen. Da die On/Off-Beziehung mit ihrem „total suaven“ Freund Trevor endgültig gescheitert ist, nachdem sie die Blowjobs eingestellt hatte, ist ihre nervige Freundin Reva ihr einziger Sozialkontakt. Mit der Zeit entwickelt ihr somnambules Ich ein Eigenleben, das sie nicht mehr kontrollieren kann. Und zum Ende ihrer Auszeit wird sie ausgerechnet in den Alptraum-September des Jahres 2001 katapultiert …

Mit ihrem dritten Roman etabliert die 37-jährige US-Autorin Ottessa Moshfegh ihren Stil, der sich jeder Genrezuordnung entzieht. Ihr sperriges Debüt „MacGlue“ spielt Mitte des 19. Jahrhunderts und setzt uns der nebulösen Wahrnehmung eines Seemanns aus. Der Pseudo-Krimi „Eileen“ erzählt von einer emotional gestörten Frau in den 1960er-Jahren, die der Enge der Kleinstadt entfliehen will. Und jetzt zeigt Moshfegh eine Ich-Erzählerin, die sich der oberflächlichen Lebenswelt entsagt und die Realität verweigert. Da Moshfegh schonungslos an ihre Protagonisten ranzoomt und uns mit detaillierten Auskünften über Hygienestatus und die Feuchtigkeit jeder Körperspalte konfrontiert –, gerät ihre Gesellschaftskritik zugleich zur Auseinandersetzung mit Ekel, Scham und weiblichen Schönheitsidealen. Dass dem Leser ob der redundanten Erzählweise und Handlungsarmut der Story nicht die Augen zufallen, ist dem unverwechselbaren Moshfegh-Sound zu verdanken. Genau der macht die Erzählrebellin zur humorvollsten Alltagsanalytikerin und zugleich größten Schlafmütze der Gegenwartsliteratur. (nh)

 

Ottessa Moshfegh Mein Jahr der Ruhe und Entspannung

Liebeskind, 2018, 320 S., 22 Euro

Aus d. Engl. von Anke Caroline Burger

 

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