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Sarah Kuttner: 180 Grad Meer

Sarah Kuttners neuer Roman fragt: Dürfen wir uns von unseren Eltern trennen?

Sarah Kuttner hat einen Roman über Trennungen geschrieben und wirft eine aufrührerische Frage auf: Gibt es wirklich diese eine Verbindung, die wir niemals lösen dürfen?

Nachdem ihr Vater die Familie verlassen hat, musste Jule bereits als Sechsjährige die Verantwortung für ihren Bruder und die selbstmordgefährdete Mutter übernehmen. Das hat Spuren hinterlassen: In ihrem Alltag versucht sie, allen Problemen aus dem Weg zu gehen und mit all der angestauten Wut klarzukommen. Den Kontakt zu ihrem Vater hat sie abgebrochen, die Anrufe der depressiven Mutter ignoriert sie so weit wie möglich, und ihre Jobs kosten große Überwindung. Nur bei ihrem Freund hat sie sich einen Rückzugsort geschaffen – und als die Beziehung bröckelt, flüchtet sie zum Bruder nach London. Doch in England trifft sie auch ungewollt auf ihren Vater.

Sarah, darf man sich von seinen Eltern trennen?
Sarah Kuttner: Wir trennen uns von Partnern, wenn es nicht mehr passt, und wir würden nie bei Freunden bleiben, die richtig scheiße zu uns sind. Warum sollte man das nicht auch mit den Eltern machen dürfen? Ich fürchte aber – und jetzt sage ich das böse T-Wort – dass das nach wie vor ein Tabu ist: Mit den Eltern macht man nicht Schluss, denn Familie ist das allerwichtigste. Das stimmt auch, wenn Mama an Weihnachten einfach nur nervt. Aber wenn es dir wie der Heldin in meinem Buch geht, deren Mama sie als Sechsjährige für die Familie verantwortlich gemacht hat und sie an ihrem Selbstmordversuch teilhaben ließ, dann kann man schon mal denken, dass Familie vielleicht auch nicht das wichtigste ist.

Aber ist eine richtige Trennung überhaupt möglich? Selbst wenn Leute den Kontakt zu ihren Eltern abbrechen, bleibt es meist trotzdem ein großes Thema und sie kommen zu keinem entspannteren Umgang mit der Vergangenheit.
Kuttner: Mein Buch unterstützt in gewisser Weise diese Aussage, denn die Protagonistin will ihre Eltern ja loswerden, bekommt das aber irgendwie nicht hin. Trotzdem glaube ich, dass es funktionieren könnte. Ich habe mit einer Person im eher entfernteren Verwandtenkreis tatsächlich Schluss gemacht, und da funktioniert das gut und mir fehlt nichts. Klar, das ist ein Tick weiter weg als die Eltern, aber warum sollte das mit denen nicht gehen. Vielleicht geht es um ein Schuldgefühl, weil man als Kind sehr viel von den Eltern bekommen hat und meint, das zurückgeben zu müssen, wenn die Eltern alt sind. Aber wenn man überhaupt so weit ist, mit den Eltern Schluss machen zu wollen, hat man ja auch augenscheinlich ein oder zwei Sachen bekommen, die nicht so schön sind und die einem nicht guttun. Es ist ja eh der allerletzte Versuch. Vorher sollte man natürlich andere Wege suchen.

Loslassen ist das große Thema von „180° Meer“. Deine Heldin muss nicht nur ihre Eltern, sondern auch ihren Freund und die eigene Umgehensweise mit der Vergangenheit hinter sich lassen. Fällt es dir selber auch schwer, loszulassen?
Kuttner: Ich kann Sachen leider auch nicht so gut gehen lassen – aber ich habe mir vorgenommen, daran zu arbeiten, dass das anders wird. Ich neige auch zu so einer komischen Melancholie, weil ich nicht loslassen kann. Als Gewohnheitstier finde ich es schön, wenn ich Sachen kenne und weiß, wo was ist, sowohl in der Küche als auch in mir, in meinem sozialen Leben. Das muss so ein grundsätzliches Sicherheitsbedürfnis sein, auf dem das fußt, und wo das herkommt will ich lieber gar nicht wissen. Aber es ist gefährlich, weil ich dann eben auch an Sachen festhalte, die nicht mehr gut sind. Und damit macht man sie noch schlechter. Egal, ob es sich nun um zwischenmenschliche Beziehungen, Jobs oder was auch immer handelt.

Tendierst du nicht dazu, diese Melancholie auch ein bisschen zu genießen?
Kuttner: Mit Traurigkeit funktioniert das. Ich kann es abfeiern, wenn ich zu einem Song weine, und bei Filmen und Serien fange ich auch sehr schnell an zu heulen. Das Wort mag ja tief und kreativ klingen und deswegen wird es wohl oft auch positiv bewertet, aber Melancholie ist eine latente, durchgehende Traurigkeit, die eigentlich gar nicht schön ist. Ich bin auch nicht grundsätzlich traurig, aber tatsächlich neige ich dazu.

Hat das auch mit dem Älterwerden zu tun, mit dem Bewusstsein, dass bestimmte Dinge unwiederbringlich weg und nicht mehr möglich sind?
Kuttner: Bei mir fängt das ja jetzt erst an, dass ich regelmäßig Rückenschmerzen habe. Eigentlich ist alles von dem, was ich bislang gemacht habe, noch wiederholbar. Vielleicht müssen wir mit dieser Frage noch ein bisschen warten. Mit 37 kann ich alles, ich könnte sogar noch Kinder kriegen. Es ist immer noch alles möglich, außer Model zu werden. Und das liegt an meiner Körpergröße.

Interview: Carsten Schrader

Sarah Kuttner 180° Meer
Fischer, 2015, 272 S.; 18,99 Euro

LESEREISE
16. 2. Chemnitz
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27. 4. Osnabrück
28. 4. Bielefeld
29. 4. Bremen

Am 4. 2. startet die dritte Staffel von „Kuttner plus Zwei“ auf ZDFneo. Als Gäste sind unter anderem Rocko Schamoni, Thees Uhlmann, Annette Frier und Anneke Kim Sarnau dabei.

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