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Tocotronic: Die Unendlichkeit

Tocotronic lassen mit einem autobiografischen Album alle Verklausulierungen hinter sich – den Rückzug ins Private markiert ihr neues Meisterwerk aber nicht.

Man sollte nicht den Fehler machen, Tocotronic auf ihr Diktum „Eins zu eins ist jetzt vorbei“ vom weißen Album festzunageln, wenn sie nun eine explizit autobiografische Platte vorlegen. Natürlich verwehrt sich auch „Die Unendlichkeit“ trotz großzügiger Identifikationsangebote gegen privatistisches Einigeln, und gegen ein kumpelndes „Kennst du das auch?“ erst recht.

Etwas Nostalgie muss dennoch erlaubt sein: Wenn Dirk von Lowtzow in der Single „Hey du“ spießige Kleinstadtkonformität beschreibt, das Gefühl, nicht reinzupassen und die Gewissheit, auch nicht reinpassen zu wollen, dann fühlt man sich unweigerlich in die eigene Jugend zurückversetzt, in der man von Tocotronic über ganz ähnliche Stolperpfade begleitet wurde – doch auch hier eröffnen sich weitere Ebenen zur Gegenwart hin, zu Abschottungs- und Ausgrenzungsmechanismen in Zeiten des Rechtsrucks.

Das Persönliche und das Private, beides ist hier untrennbar miteinander verzahnt, fast immer weisen von Lowtzows Ich-Erzählungen über sich selbst hinaus; sind angereichert mit zeitgeschichtlichen Querbezügen („Electric Guitar“) oder vampirischer Metaphorik („Bis uns das Licht vertreibt“), und wenn dann wie „Du hast mich gerettet“ doch ein Liebeslied das Pathos umarmt, dann bleibt zumindest der Adressat mehrdeutig.

Schon zu Beginn, wenn der Titelsong die narrative Kreisbewegung einläutet, von Lowtzow das Wort „Zärtlichkeit“ singt und seine Stimme von einer Gitarrenwand verschluckt wird, bevor ein abrupter Paukenschlag alles auf Null setzt und zum zärtlichen Kindheitslied „Tapfer und grausam“ überleitet – dann ist klar, dass es sich bei „Die Unendlichkeit“ erneut um ein Meisterwerk handelt. Und da ist man noch längst nicht angelangt bei der von klassischen Instrumenten unterstützten Winterreise „Unwiederbringlich“, dem musikalisch herausstechenden Song der Platte und der vielleicht traurigste, den Tocotronic je geschrieben haben. sb

Das ganze Interview mit Dirk von Lowtzow zum neuen Album „Die Unendlichkeit“ ist auf uMagazine.de zu lesen.

 

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