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Yasmina Reza: Babylon

Yasmina Reza kennt die Leichen in den bürgerlichen Kellern. Jetzt nutzt sie den Streit um ein Biohuhn für ihren bisher abgründigsten Text.

Spätestens seit Roman Polanskis Verfilmung ihres Stücks „Der Gott des Gemetzels“ gilt es auch jenseits der Theaterszene als ausgemacht: Niemand versteht sich besser darauf, bürgerliche Doppelmoral, Abgründigkeit und Verzweiflung zu entlarven als die 56-jährige Französin Yasmina Reza. Selbst wenn die Autorin von Theaterstücken, Romanen und Drehbüchern gelegentlich in Klischees und Stereotypen verfällt, sind doch vor allem ihre Dialoge stets so treffsicher wie amüsant, und auch in ihrem neuesten Roman „Babylon“ ersinnt Reza wieder eine bürgerliche Zusammenkunft, um sie aus dem Ruder laufen zu lassen: Die 62-jährige Patentingenieurin Elisabeth gibt eine Frühlingsparty, zu der sie auch das Ehepaar aus der Nachbarwohnung über ihr einlädt. Es kommt zu einer Verstimmung zwischen Jean-Lino, der in einem Kundendienstzentrum für elektronische Haushaltgeräte arbeitet, und seiner Frau Lydie, die als New-Age-Therapeutin arbeitet und gelegentlich in Bars als Sängerin auftritt. Jean-Lino erzählt der Partygesellschaft von einem Restaurantbesuch und dem Disput des Paares über ein Bio-Hühnchen:

-Ja, Hühner setzen sich in Bäume, bestätigte Lydie.

-Da bitte! Jean-Lino nahm uns zu Zeugen. Als der Kellner weg war, sagte ich zu Rémi, wenn Oma Lydie uns erlauben soll, Hühnchen zu essen, dann muss das Hühnchen vorher auf einem Baum gesessen haben! Der Kleine fragte, warum muss das Hühnchen vorher auf einem Baum gesessen haben? Sie sagte, weil es wichtig ist, dass das Hühnchen ein normales Hühnerleben führen konnte.

-Ganz genau, sagte Lydie

-Wir sagten ja, ja, das wissen wir, aber wir wussten nicht, dass das Hühnchen dazu auch unbedingt auf Bäumen sitzen muss!

-Es muss auch Staubbäder nehmen können, fuhr Lydie fort, mit einer Haltung des Halses und einem Tonfall, bei dem es Jean-Lino sofort hätte eiskalt werden müssen, wäre er nur etwas nüchterner gewesen.

Während Lydia für den Rest des Abends beleidigt schweigt, eskaliert der Streit, als das Paar nach der Party wieder in der eigenen Wohnung ist: Weil Lydia nach dem geliebten Kater Eduardo tritt, erwürgt Jean-Lino seine Frau im Affekt. Noch unter Schock klingelt Jean-Lino in der Nacht erneut bei Elisabeth und bittet seine Freundin und Gesprächspartnerin, ihm bei der Beseitigung der Leiche zu helfen … Wenn die Ich-Erzählerin Elisabeth den Partyabend Revue passieren lässt und auf das Leben von Jean-Lino und seine ungestillte Sehnsucht nach Liebe und Anerkennung blickt, um Erklärungen für seine Tat zu finden, so sind es doch vor allem die Parallelen zu ihrer eigenen Biografie, die „Babylon“ zu Rezas bisher eindringlichsten Arbeit machen. Sie lässt Elisabeth abschweifen, um von eigenen Verlusten und verpassten Lebenschancen zu berichten. „Ist es vernünftig, sich um das Geliebtwerden zu bemühen? Ist das nicht eine jener Mühen, die von vornherein zum Scheitern verurteilt sind?“ Es sind Sätze wie diese, die ganz besonders nachhaltig wirken.

Carsten Schrader

Yasmina Reza Babylon

Hanser, 2017, 224 S., 22 Euro

Aus d. Franz. v. Frank Heibert u. Hinrich Schmidt-Henkel

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